„Wie wir alle wissen, ist die Wurzel der europäischen Probleme der Mangel an kulturellem Selbstbewusstsein (...) Überflüssig zu sagen, die steigende Anzahl der Nationalisten in Westeuropa wird vom etablierten- politisch multikulturell eingestellten – Establishment systematisch verhöhnt,zum Schweigen gebracht und verfolgt (...) und hält uns davon ab unseren eigenen kulturellen Selbstmord abzuwenden, während die islamistische Kolonisation jährlich deutlich voranschreitet.“
Dieser Textausschnitt war als Diskussionspapier für ein Seminar zum Thema totalitäre Ideologien gedacht. Er stammt aus dem „Manifest“ des rechtsextremen Massenmörders Anders Behring Breivik, der sich neuerdings Fjotolf Hansen nennt.
Der Text dieses 2011 vorwiegend als verrückten Einzeltäter gedeuteten Rechtsextremen, der hauptsächlich islamfeindlich und antifeministisch daherkommt, sowie sich gegen eine politisch korrekte „kulturmarxistisch“ dominierte Gesellschaft richtet, die vor allem den „weißen Mann“ abschaffen will, kam dann nicht zum Einsatz. Denn Kritik an „Gutmenschen“, dem Islam, politischen Eliten, den öffentlich-rechtlichen Medien, dem Feminismus – nunmehr „Genderwahn“ – ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Extrem konservative, autoritäre Dogmen [1] erfreuen sich in historischen Perioden der Verunsicherung besonderen Zuspruchs, indem sie sich Ängste zunutze machen beziehungsweise diese schüren. Für Europa bedeutende Umbruchszeiten waren vor allem Reformation und Gegenreformation (Ergebnis 30jährigerKrieg) sowie Faschismus und Nationalsozialismus (Ergebnis 2. Weltkrieg).
Zunehmende globale Ungleichheit, verursacht durch Kriege, (patriarchale) Gewalt und die Globalisierung (sichtbar gemacht durch die „Flüchtlingswelle“), intersektional verschränkt mit den Umbrüchen durch die Digitalisierung und einem Backlash bezüglich Frauenrechten, so kann die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung beschrieben werden, all dies in nun noch unabsehbarer Weise verschärft durch die Pandemie.
In bedeutenden Aspekten scheint diese Entwicklung derjenigen von Gegenreformation und der Zeit vor dem 2. Weltkrieg zu entsprechen: Mitte des 15. Jahrhunderts mit der Erfindung des Buchdrucks, der frühkapitalistischen Entwicklung - die zu einer Verelendung des Großteils der europäischen Bevölkerung führte und der Bedeutung einiger Frauen[2], die - soweit sie lesen konnten - erstmals an religiösen und politischen Debatten teilnahmen – ein Beispiel ist Anne Boleyn, die zweite Frau Heinrichs VIII [3]. Vor allem die die Inquisition tat sich dagegen mit Hexenverfolgungen und Judenprogromen hervor.
Massenverelendung - ausgelöst vor allem durch die Weltwirtschaftskrise, die Verbreitung des Radios und eine erste Frauenemanzipationswelle, die zu einer Ausweitung von Frauenrechten (Wahlrecht) und einer radikalen Veränderung des weiblichen Selbstverständnisses führte, prägten die 20iger und 30iger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Faschistische und nationalistische Propaganda machten sich diese Ängste zunutze und propagierten eine (Rück)besinnung auf soldatische Männlichkeitskonzepte, wie sie Klaus Theweleit Ende der 70iger Jahre beschrieben hat. Die Folgen sind bekannt.
Der derzeit weltweit agierende Finanzkapitalismus (camouflierend Globalisierung genannt) führt zu immer größerer gesellschaftlicher Ungleichheit.
Die Etablierung des Internets und besonders der sogenannten Sozialen Medien sind in ihrer Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar. Und dort etablieren sich fake news, Verschwörungstheorien und ein beispielloser sexistischer, rassistischer oft auch antisemitischer Hass.
Denn, wenn die Frauen zu mächtig werden könnten, schlägt der autoritär geprägte Mensch (nicht nur der männliche) zurück. Trump, Erdogan, Orban, Bolsaonaro aber auch Breivik sind gute Beispiele dafür, letzterer verwendet einen der drei Teile seines „Manifests“ dafür, den Feministinnen die Schuld zu geben an allem, was er kritisiert.
„Wenn alleUnterdrückung von westlichen Männern kommt, wird es logisch zu versuchen, sie so effektiv wie möglich zu schwächen. (...) Herzlichen Glückwunsch, westeuropäische Frauen! Ihr habt es geschafft, eure eigenen Söhne so sehr zu quälen und zu verhöhnen, dass sie viele ihrer maskulinen Instinkte unterdrücken. Doch zu eurer Überraschung habt ihr kein feministisches Nirvana betreten, sondern den Weg zu einer islamischen Hölle gepflastert.“
Die Unterscheidung zwischen „richtigen“ und „falschen“ Frauen (Müttern und Hexen) war und ist ein wirksames Mittel der Unterdrückung, für diese Spaltung müssen Feministinnen und dem „Genderwahn“ Verfallene herhalten. Denn diese sind in der rechten Propaganda der Grund dafür, dass jetzt ALLE Frauen sich vor den angeblichen muslimischen Männerhorden fürchten müssen. Entsprechende Postings lassen an Sexismus und Rassismus nichts zu wünschen übrig: „Du Fotze, ich hoffe deine schutzsuchenden Musels ficken dich in alle deine dreckigen Löcher, bis du verblutest. Das sind eh die einzigen, die deine ausgeleierte Fut benützen würden, du frustrierte Emanze.“ [4]
Dies führt dazu, dass sexuelle Übergriffe nur mehr als solche von „Ausländern“ wahrgenommen werden sollen, die sich an „unseren“ Frauen vergreifen und sexuelle Gewalt von Seite „autochtoner“ Männer ausgeblendet wird. Dasselbe gilt für Gewalt gegen Homosexuelle oder jüdischen Mitbürger_innen.
Auch die islamistische Gefahr darf nicht unterschätzt werden, autoritäre, frauenfeindliche, homophobe und antisemitische Tendenzen sind überall dort, wo sie auftreten, wahrzunehmen und nachhaltige Strategien dagegen zu entwickeln.
Der ungekürzte (und nicht um die Coronaauswirkungen aktualisierte) Beitrag ist nachzulesen in: Dimmel, N. & Schmid, T. (Hrsg.) (2018). Zu Ende gedacht. Österreich nach türkis/blau (S. 135 – 140). Wien: mandelbaum verlag.
[1] Adornos F-Skala - durch Misogynie und Homophobie ergänzt - beschreibt diese immer noch sehr treffend.
[2] Wenn hier von Frauen und Männern die Rede ist, so sind diese als „Strategische Kategorisierungen“ zu verstehen. Kategorisierungen von Geschlecht tragen die Gefahr Stereotypen zu verstärken, in sich. Dennoch geht es nicht ohne sie, vor allem dann, wenn es umkonkrete Machtverhältnisse geht, sind unumgänglich.
[3] Bordo, S. (2014). The Creation of Anne Boleyn: A New Look at England's Most Notorious Queen. Boston New York: Mariner Books.
[4] Gerichtet an eine Kollegin der Journalistin Corinna Milborn (Kaufmann,B., Milborn, C., Klenk, F., Herbst, H. & Thurnher, I. (2016). Uns reichts. Falter 24/16. Abgerufen am 9. 2. 2018 von https://www.falter.at/archiv/wp/uns-reichts).